Lavinia Rütten*
Meinen fast einjährigen Internationalen Jugendfreiwilligendienst in Nicaragua vor dem Bachelor-Studium musste ich im Mai 2018 aufgrund der sozio-politischen Krise abbrechen. Einen Erfahrungsbericht aus dieser Zeit findet man hier:
Die folgende Darstellung der Entwicklung der Krise seit 2018 beruht auf einem Bericht der Menschenrechtsorganisation CENIDH in Nicaragua.[ii]
Was geschah im April 2018?
Seit 2018 befindet sich Nicaragua in einer sozio-politischen Krise, in der sich die Präsidentschaft unter Daniel Ortega und Rosario Murillo als zunehmend autoritärer werdendes Regime bewiesen hat.
Im April 2018 entstanden erste öffentliche Proteste während des verheerenden Waldbrandes im Naturreservat „Indio Maíz“, gegen die Regierung keine Maßnahmen einleiten wollte.
Wenige Tage nach diesem Ereignis wurde am 16. April 2018 die „Reform für das Gesetz der Sozialversicherung“ verabschiedet, die u. a. die Rente um 5 % kürzen sollte. Diese am 18. April 2018 veröffentlichte Reform löste an diesem Tag Proteste unter den Rentner*innen aus, bei denen die Polizei physische Gewalt gegenüber den Demonstrant*innen einsetzte. Die Gewalt gegenüber den Senior*innen löste eine Protestwelle der jungen Leute, überwiegend Studierende, aus. Diese Proteste verliefen auf Seiten der Studierenden friedlich, zu gewaltsamen Ausschreitungen kam es jedoch durch die Gewaltanwendung der nationalen Polizei, der „Juventud Sandinista“ (Jugendorganisation der Regierungspartei) und Paramilitärs, die die Demonstrationen u. a. mit Benutzung von Schusswaffen zu unterdrücken versuchten. Ergebnis dieser gewaltsamen Repressionen waren mehrere Hunderte Tote, Verletzte, Verhaftete, Gefolterte sowie Vermisste. Die freie Meinungsäußerung wurde in den folgenden Monaten immer weiter eingeschränkt und die Pressefreiheit verletzt.
Im Zuge dieser Menschenrechtsverletzungen wurde Nicaragua von mehreren internationalen Organisationen beobachtet, zum Beispiel von der Interamerikanische Komission für Menschenrechte der Organisation Amerikanischer Staaten, dem UN-Hochkommissariat für Menschenrechte in Honduras und Abgeordneten des Europäischen Parlaments.
Welche nationalen Versuche zur Lösung des Konflikts wurden unternommen?
Um die Krise zu entschärfen und möglicherweise eine Lösung für den Konflikt zu finden, wurde als Gesprächsplattform am 13. Mai 2018 der sogenannte nationale Dialog geschaffen, an dem Regierung und Opposition unter Vermittlung der nicaraguanischen Bischofskonferenz teilnahmen. Die erste Periode des Dialogs endete im Juni 2018, da sich die Konfliktaktuer*innen nicht auf die von der Opposition geforderten vorgezogenen Wahlen einigen konnten. Einziger Erfolg war der Einlass der Organisation Amerikanischer Staaten in Nicaragua.
In späteren Phasen stimmte die Regierung der Befreiung politischer Gefangener und gerichtliche Restitution zu, wobei trotz der Befreiung einiger Gefangener weitere willkürliche Inhaftierungen stattfanden. Offiziell beendete die Regierungsseite den Dialog am 30. Juli 2019.
Abgesehen von diesen gescheiterten nationalen Versuchen zur Lösung der sozio-politischen Krise wurde die Krise von unterschiedlichen internationalen Organisationen beobachtet, kritisiert und Empfehlungen zu deren Lösung ausgesprochen.
Eine Lösung hat sich aber bis dato nicht gefunden und im kommenden Jahr stehen die regulären nationalen Wahlen an.
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Wie gestaltet sich aktuell die COVID-19-Krise in Nicaragua?
Die COVID-19-Pandemie ist eine weltweite Krise, die in den einzelnen Ländern sehr unterschiedlich behandelt wird. Nicaragua zählt zu den wenigen Ländern, in denen lange Zeit von Regierungsseite nur eine geringe Infektionszahl angegeben wurde und keine Maßnahmen zur Verhinderung der Ausbreitung des Virus getroffen wurden. Mitten in dieser Gesundheitskrise verschwand Präsident Ortega sogar für fünf Wochen von der Bildfläche. Die zunehmenden Krankheitsfälle in der Bevölkerung wurden auf „Lungenentzündungen“ geschoben. Immer noch ist die Dunkelziffer der infizierten Personen sehr hoch.[iii]
Die Coronakrise wirkt sich nicht nur gesundheitlich auf die Nicaraguaner*innen aus, sondern auch kulturell. Viele Künstler*innen, Gruppen und kulturelle Institutionen sind dazu gezwungen, dem Publikum den Raum zu verschließen, sodass nur noch die Möglichkeit der digitalen Beiträge bleiben, die den Kulturschaffenden meistens keine Honorare verschaffen.
2021: Lösung der Krise oder Verschärfung?
Ortegas Regierung bestätigte im Juli 2020, dass die allgemeinen Wahlen am 7. November 2021 stattfinden werden. Gleichzeitig wurde eine Resolution verabschiedet, die in das Wahlgesetz eingreift. Aufgrund der Verzögerung bei der Bestätigung der Rechtsfähigkeit von Organisationen während der Coronapandemie soll die Frist für diesen Prozess verlängert werden. Die Opposition kritisiert diese Resolution als „nicht verfassungskonform“, da nur das Parlament das Wahlgesetz ändern dürfe und sieht daran eine Strategie, die Koalitionsallianz mehrerer Parteien vom 25. Juni 2020 zu schwächen und einzelne Parteien zum eigenen Ersuchen ihrer Wählerstimmen anzuspornen.[iv]
Kann die Lösung der derzeitigen Krisen Nicaraguas durch die Ablösung des Präsidenten Ortega 2021 gelingen? Werden freie und geheime Wahlen ohne Unregelmäßigkeiten gewährleistet werden? Wird sich die Krisensituation durch die Wahlen und das Festhalten Ortegas und seiner Partei an der Regierung noch verschärfen?
Vielleicht werden die Monate bis zu den Wahlen schon Hinweise auf mögliche Antworten auf diese Fragen geben können. Bis dahin bleibt die Situation in Nicaragua weiterhin kritisch zu beobachten.
[i] Rütten, Lavinia: „Lavinia, Bewohnte Frau, Revolution. -Oder warum ich nie nach Costa Rica reisen wollte.“, 5.5.2018, URL: https://laviniastraum.wordpress.com/2018/05/05/lavinia-bewohnte-frau-revolution-oder-warum-ich-nie-nach-costa-rica-reisen-wollte/ (abgerufen am 9.8.2020).
[ii] Centro Nicaragüense de Derechos Humanos (CENIDH): „623 días de represión y resistencia: situación de los derechos humanos en Nicaragua 18 abril 2018 – 31 diciembre 2019“, 19.6.2020, URL: https://www.cenidh.org/media/documents/docfile/Informe_2018-2019_v.final.pdf (abgerufen am 9.8.2020).
[iii] Pieper, Oliver: „Nicaragua: Ortega ignoriert das Coronavirus“, in: Deutsche Welle, 21.5.2020, URL: https://www.dw.com/de/nicaragua-ortega-ignoriert-das-coronavirus/a-53518551 (abgerufen am 9.8.2020).
[iv] Deutsche Welle: „Ortega confirma elecciones en 2021 con polémica resolución“, 15.7.2020, URL: https://www.dw.com/es/ortega-confirma-elecciones-en-2021-con-polémica-resolución/a-54180414 (abgerufen am 9.8.2020).
Bild
Titel: Manifestación de alumnos y ex alumnos de los principales colegios privados de Managua. 15 de mayo 2018 SOSNicaragua
Autor: Jorge Mejía peralta
Link: https://www.flickr.com/photos/mejiaperalta/41711398064/
*Lavinia Rütten ist studiert ihre Bachelor an der Abteilung für Altamerikanistik der Universität Bonn.