Soledad

Dass es sich bei Soledad um ein Wort von besonderer Bedeutung handelt, ist auf den ersten Blick nicht direkt zu erkennen. Eine leichtfertige Übersetzung des Wortes ins Deutsche mit Einsamkeit scheint einfach. Dass diese Übersetzung zu kurz greift, wird spätestens durch die Unvorstellbarkeit aus deutschsprachiger Perspektive deutlich, seiner Tochter den Vornamen Einsamkeit zu geben. In Lateinamerika ist der Name Soledad dagegen keine Seltenheit und nicht umsonst ist einer der Titel der Heiligen Maria im Spanischen auch Nuestra Señora de la Soledad.

Während das im Deutschen vor allem negativ besetzte Wort Einsamkeit in seiner allgemeinen Verwendung das Fehlen von Gesellschaftlichkeit und so das mehr oder weniger kurzfristige Gefühl der Verlassenheit verkörpert, kommt Soledad im lateinamerikanischen Spanisch eine ambivalente Funktion zu. Hier kann unter Soledad ein ganzes Lebensgefühl verstanden werden. Ein Gefühl von Isoliertheit, die das Bestehen des Besonderen in einem stolzen und würdevollen Sinne ermöglicht.[1] Soledad beschreibt demnach nicht nur den Zustand eines Individuums, sondern kann auch als Gefühl des gesamten Kontinents aufgefasst werden.[2] Deutlich wird dies unter anderem auch in Cien años de soledad, einem der wohl bekanntesten Romane Lateinamerikas, in dem dieses Konzept der Soledad eindringlich mit einem Teil der Geschichte des Kontinents verwoben wird. Dessen Autor, Gabriel García Márquez, erläutert in seiner Rede bei der Verleihung des Literaturnobelpreises 1982 das umfassende Gefühl der Soledad und beschreibt es einerseits als eine negative Folge der kolonialen Vergangenheit und der anhaltenden Kolonialität: „La interpretación de nuestra realidad con esquemas ajenos sólo contribuye a hacernos cada vez más desconocidos, cada vez menos libres, cada vez más solitarios.“[3] Andererseits nimmt Soledad nach ihm auch eine zentrale Position im Gefühl von Unabhängigkeit und Originalität ein[4] und kann somit auch positiv konnotiert sein.

Soledad meint also weit mehr als das deutsche Wort Einsamkeit und kann in seiner umfassenden Bedeutung wohl kaum treffend in andere Sprachen übersetzt werden.


[1] vgl. Albig, Jörg-Uwe (2015): Hundert Jahre Einsamkeit. In: GEO Epoche (71), S. 131.

[2] vgl. Ebd.

[3] García Márquez, Gabriel (1982): La soledad de América Latina [Rede zur Verleihung des Literaturnobelpreises]. El mundo. Online verfügbar unter https://e00-elmundo.uecdn.es/especiales/cultura/gabriel-garcia-marquez /pdf/discurso_gabriel_garcia_marquez.pdf, zuletzt geprüft am 13.05.2021

[4] vgl. Ebd.

Author of the article: Lars Schacht
Date of publication: 14.05.2021

Image source: “Cien años de soledad”, edición especial 50 años. Ilustraciones por Luisa Rivera.