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Swintha Danielsen*
Südamerika zeichnet sich durch seine Sprachvielfalt aus und besonders in Amazonien gibt es eine große Anzahl indigener Sprachen, wovon nicht wenige keiner Sprachfamilie zuzuordnen sind und als Isolate bezeichnet werden. Die Arawaksprachfamilie ist eine der drei größten klassifizierten Sprachgruppen. Sie verteilt sich vor allem über das südamerikanische Tiefland, also einen Großteil Amazoniens, reicht aber sogar hinein bis in die Anden als Resultat vorkolonialer Ausbreitung durch Handelsbeziehungen. Sehr früh schon wurde die Arawaksprachfamilie erkannt, nämlich in den 1780er Jahren durch den Jesuiten Vater Gilii, der Ähnlichkeiten zwischen verschiedenen Sprachen am Alto Orinoco entdeckte. Der Philologe Hervàs y Panduro zog darauf 1784 noch die Verbindung bis hin zur bolivianischen Moxo-Sprache. Bemerkenswert ist, dass die Entdeckung der Arawaksprachfamilie sogar noch der des Indoeuropäischen vorausging. Im 20. und 21. Jahrhundert standen die Arawaksprachen sowie die -gruppen im Zentrum der Forschung. Heute sind über 40 Arawaksprachen in der Literatur bekannt und z.T. genauer beschrieben. Die Sprache, die ich in diesem Artikel kurz beschreiben möchte, ist das Baure, eine Arawaksprache aus dem bolivianischen Amazonien und Nachbarsprache des Moxo. Am Ende des Artikels finden sich Links zu weiteren Artikeln und Baure-Spracharchivdaten.
Das Baure ist eine der 36 offiziell anerkannten Sprachen des Plurinationalen Staates Bolivien. Baure ist damit eine der heute insgesamt 14 bekannten Arawaksprachen Boliviens und eine der heute noch sechs gesprochenen Arawaksprachen des Landes. Die Zahl der Bauresprecher*innen hat sich besonders in den letzten 20 Jahren dramatisch reduziert, da die letzte Generation von tatsächlichen Muttersprachler*innen, d.h. Menschen, die als erste Sprache Baure sprachen, in den 1940ern geboren wurde. Nach dieser Zeit lernten die Baure immer gleichzeitig oder vorrangig Spanisch als Muttersprache und Baure als Kommunikationsmittel mit älteren Mitgliedern der Gesellschaft. Viele lernten ab dieser Zeit auch gar kein Baure mehr.
Einführung
Jare’ ndori! Je’inovi? – Jare’ nen! Chon, jati’? – Je’inoekwoni.
Diese Begrüßungsformel ist der Beginn eines Gesprächs zwischen einer älteren Frau, die eine jüngere Person im Dorf Baures anspricht. Die Worte sind zum Teil noch recht bekannt, zumindest der Anfang ist auf den Straßen in Baures noch häufig zu hören: „Hallo Freund*in! Wie geht es dir? – Hallo Mütterchen! Gut und dir? – Mir geht es sehr gut.“ Die letzte Antwort ist für die meisten Nichtsprecher*innen morphologisch etwas zu komplex und zu phonetisch verschieden vom Spanischen [ˈjɜʔinœkwɔˌniʔ], um sie deutlich und komplett auszusprechen. Denn die meisten Baure sprechen heute nicht mehr viel von der Baure-Sprache, die einst im Missionsort Concepción de Baures, im Dorf El Carmen und in der Kleinstadt San Joaquín im nördlichen Department Beni im bolivianischen Amazonien gesprochen wurde. Baure ist verwandt mit den Moxo-Sprachen Ignaciano und Trinitario, die sich in vorkolonialer Zeit über weite Teile des Beni ausgebreitet hatten. Sowohl Moxo als auch Baure fungierten in Zeiten der Missionierung durch die Jesuiten im 18. Jahrhundert als regionale Lingua Franca.
Sprachgruppe Baure

Das Baure hat sich in kolonialer Zeit südlich nach El Carmen und westlich bis ins heutige San Joaquín ausgebreitet und dadurch in drei Dialekte ausdifferenziert: Baure, Carmelito und Joaquiniano. Außerdem haben die Jesuiten und spätere Reisende in der Gegend noch Sprachen notiert, bzw. deren Namen, die möglicherweise in diese Sprachgruppe gehören: Vom Muchojeone wissen wir nicht viel mehr als den Namen. Das Paiconeca ist im südlicheren Santa Cruz gesprochen worden und wird bei den Missionen der Chiquitania genannt. Obwohl Paiconeca der Ähnlichkeit halber enger mit dem Paunaka (auch Arawak) in Beziehung gewähnt wurde, wird heute davon ausgegangen, dass die Paiconeca einen weiteren Baure-Dialekt sprachen. Paunaka hingegen ist möglicherweise ein Indiz für engere Beziehungen zwischen Moxos und der Chiquitania, denn es ist dem Moxo ähnlich.
Die drei Baure-Dialekte, die sich bis ins 21. Jahrhundert erhalten haben und daher dokumentiert werden konnten (Baure, Carmelito und Joaquiniano), sind heute nicht mehr unbedingt gegenseitig verständlich und unterscheiden sich in Teilen sehr stark von den Moxo-Sprachen. Die Moxo-Sprachen haben zwar Personalaffixe, die typisch Arawak sind und die sie mit dem Baure und fast allen anderen Arawaksprachen teilen, aber in der 3. Person haben sie ganz besondere Formen, die u.a. auch das Sprecher*innengeschlecht mit markieren. Solche genderdialektalen Markierungen hat das Baure nicht. Bei den Arawaksprachen in Bolivien lässt sich ein Phänomen beobachten, das die ausgesprochenen Wörter sehr unterschiedlich macht, nämlich das Tilgen von Vokalen und ganzen Silben. Dies hat auch im Laufe der Geschichte dazu geführt, dass die Wörter sehr unterschiedlich klingen. Das moderne Baure sagt z.B. nur noch nik für ‚ich esse‘, Moxo-Trinitario niniko und Ignaciano ninika.

Das Baure ist typisch für Südarawaksprachen, die sich durch besonders große morphologische Komplexität auszeichnen. Vor allem das Prädikat oder Verb besteht häufig aus vielen Morphemen und mehreren Ebenen der Derivation (Ableitung). Ein Beispiel ist folgende Frage, die aus einem einzigen Wort besteht:
- Pimowonoeyoworon?
pi-imo-wana-i-iy-wo-ro-no
2SG-nehmen-DEP-INTS-LOC-COP-3SG.M-NMLZ
‚Wo hast du es/ihn beim Weggehen gelassen?‘
Auch das Nominalklassifizierungssystem trägt zur Komplexität bei, wenn ein Klassifizierer in ein komplexes Fragewort inkorporiert werden kann:
- nborimbekinopashapir-nish??
ni-pori-mbe-ko-ino-pa-sha-pi-ro-nish
1SG-sew-CLF:flat-ABS-BEN-INTL-IRR-2SG-3SGm-EXCL
‚Nun, wenn ich es mal für dich (mit einem Flicken) stopfe, ne?‘
Klassifizierer findet man auch an Adjektiven, Zahlen und in Komposita und ihre Bedeutung kann von sehr spezifisch popoesh ‚eine Banane‘ bis hin zu sehr allgemein sein popish ‚ein langes dünnes Ding (z.B. eine Schlange, eine Kerze, ein Stift, eine Schnur, etc.)‘, je nach Beschaffenheit der Klasse.
Arawaksprachen und so auch das Baure sind nicht nur polysynthetisch, sondern sie haben auch so gut wie immer eine sogenannte Split-S-Markierung, die manchmal mit dem Ergativ verglichen wird. Hierbei geht es darum, dass das Subjekt (S) sich unterschiedlich markieren lässt, und zwar:
- als Präfix bei aktiven Verben: pinik ‚du isst‘
- als Suffix bei stativen Verben oder nichtverbalen Prädikaten: maviwapani ‚ich bin sehr krank‘, je’inoekwoni ‚mir geht es gut‘, ndoeriwori‚sie ist meine Freundin‘
Hierbei ist die Subjektmarkierung vorne am Wort so wie die Markierung eines Besitzers: nishir ‚mein Sohn‘. Die Subjektmarkierung am Ende des Wortes ist wie die der Objekte, wie z.B. ronikoni ‚er isst mich‘.
Sprachliche Geschichte
Bereits zum Ende des 17. Jahrhunderts nahmen die Jesuiten mit den Baure im Beni Kontakt auf und während sie mit den zahlenmäßig viel stärkeren Moxo einige Konflikte hatten, nahmen sie die Baure zunächst als freundlichere Menschen wahr. Es wird unter anderem immer die organisierte Dorfstruktur und die Tatsache erwähnt, dass die Baure bekleidet rumliefen. So gründeten die Jesuiten einige Missionen, in denen die Baure die Mehrzahl bildeten und demnach Baure gesprochen wurde. Die Mission San Joaquin musste häufiger den Ort wechseln, da die Bevölkerung unter mehreren Problemen litt, wovon die Krankheiten und die Opfer durch brasilianische Sklavenjäger sicher die größten waren. Darum zogen sie schließlich mit dieser Mission etwa 200 km weiter gen Westen, wo der Ort bis heute liegt. Nachdem die Missionen gegründet worden waren, kam es jedoch noch zu einem Eklat durch die Tötung von Cipriano Barace, mutmaßlich durch Baure, woraufhin die spanische Armee von Santa Cruz aus ein Heer schickte, das die Baure als Racheakt angriff und zahlenmäßig sehr reduzierte.
In der Zeit der Missionierung im 18. und 19. Jahrhundert wurde das Baure noch gebraucht und selbst in den katholischen Messen und bei den bunten Zeremonien eingesetzt. Die Jesuiten schrieben die alte Baure-Sprache auf und analysierten ihre Grammatik. Das Joaquiniano ist der alten Baure-Sprache am ähnlichsten, die anderen Dialekte haben sich stärker verändert. Erst seit den 1950er Jahren lernen alle Baure in der Schule Spanisch und die Eltern legten Wert darauf, dass die Kinder sich vornehmlich auf Spanisch verständigen konnten. Das hatte zur Folge, dass nur noch sehr wenige Menschen mit Baure als erster Muttersprache aufwuchsen. Allerdings wurde noch einige Jahrzehnte von den meisten Bewohnern Baures die Sprache Baure gesprochen. Die Baure-Kultur zeichnet sich bis heute durch eine stolze und starke lokale Identität aus, die die traditionellen Tänze und Lieder pflegt und sich mit der köstlichen Schokolade bereits international einen Namen gemacht hat.
Heutige Situation

Baure ist eine der heute 36 indigenen Sprachen, die in der Neuen Verfassung von 2009 als offiziell gelistet werden. Für Joaquiniano sind die Anträge auf eine Verfassungsänderung in Bearbeitung, damit diese Sprache auch noch offiziellen Status erhält.
In den 2000ern wurden in Bolivien viele Gruppen darauf aufmerksam, dass ihre Sprachen vernachlässigt worden waren und es begannen die ersten Bestrebungen, etwas gegen den Sprachverlust zu unternehmen. Zu dem Zeitpunkt gab es noch einige wenige Sprecher des Joaquiniano, etwa 10 des Carmelito und weniger als 100 des Baure. Durch das hohe Alter der Sprecher*innen hat sich die Situation aktuell so weit zugespitzt, dass die letzte Joaquiniano-Sprecherin 2009 verstarb, in El Carmen nur noch eine Person die Sprache beherrscht und in Baures 9 Personen. Seit 2003 wurde Baure detailliert linguistisch beschrieben und Teile der Mythologie und Gedankenwelt der Baure aufgeschrieben. Einige Bücher auf Baure wurden seither publiziert und seit 2012 gibt es auch ein Institut für Sprache und Kultur, das nicht nur die Sprache unterrichtet, sondern auch erfolgreich Programme zur Revitalisierung der Sprache durchführt, wie z.B. die Nidos Bilingües („Bilinguale Nester“), in denen die Kleinsten von den Ältesten durch Sprechen und gemeinsames Agieren die Sprache lernen können. Aufgrund dieser Lage hoffen wir, dass aus den zurzeit nur noch 10 Sprecherinnen des Baure eines Tages wieder ein Vielfaches wird.
Für nähere Informationen zum Baure
Literatur:
- Danielsen, Swintha. 2007. Baure: An Arawak Language of Bolivia. Indigenous Languages of Latin America (ILLA) 6. Leiden: CNWS.
- Riedel, Franziska. 2016. Von Geistern, Steinen und anderen Leuten: Das Weltbild der Baure im bolivianischen Tiefland. Münster: LIT Verlag.
- Sell, Lena & Lena Terhart (Hrsg.). 2016. Klassifikationen im Baure. München: LINCOM.
- Vidal Céspedez, Gilmar & Swintha Danielsen. 2011. El Carmen del Iténez: Monografía de un pueblo beniano. Santa Cruz: APCOB.
Links:
- Übersicht zu Klassifikationen und Literatur (https://glottolog.org/resource/languoid/id/baur1253)
- Digitale Bibliothek zu den Llanos de Moxos (https://llanosdemoxos.org)
- Datensammlung zu grammatischen Charakteristika (https://sails.clld.org)
Bauredaten im Archiv
* Swintha Danielsen ist Linguistin und arbeitet seit 2003 mit den indigenen Sprachen Boliviens. Sie ist zurzeit Gastwissenschaftlerin an der Europa-Universität Flensburg EUF (KURS) Link: https://www.uni-flensburg.de/kurs/wer-wir-sind