„Bolsonaro, pack deine Koffer“: Eindrücke der Wahlen in Brasilien

Demonstration für die Kandidatur von Lula da Silva (Quelle: Philipp Rohn)

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*Philipp Rohn
(Universität Bonn)

Wahlabend in Porto Alegre

Menschen mit roter Kleidung schwenken Fahnen mit dem Schriftzug Lula durch die Gegend und fordern Bolsonaro singend auf seine Koffer zu packen.[1] Es wird getanzt, gejubelt und getrunken. Als es dann noch anfing in Strömen zu regnen, vertrieb es die Menschen nicht, sondern im Gegenteil, viele badeten sich in diesem vor Erleichterung, als stelle der Regen eine Befreiung vom ganzen politischen Leid der letzten Jahre für sie dar.

Das größte Lateinamerikanische Land hat am Sonntagabend den 30.10 gewählt. In einer Stichwahl konnte sich der sozialdemokratische Kandidat Lula da Silva gegen den rechtsradikalen Amtsinhaber Jair Bolsonaro mit knapp 2% Vorsprung durchsetzen. Ich selbst befand mich an diesem Wahlabend in dem studentischen Stadtviertel der Stadt Porto Alegre, der Stadt, in der ich zurzeit mein Auslandssemester verrichte.

Porto Alegre ist die südlichste Hauptstadt Brasiliens, welche stark von der regionalen Identität der Gaúchos geprägt ist.[2] Die Staaten im Süden Brasiliens (Paraná, Santa Catarina, Rio Grande do Sul) sind besonders durch deutsche, polnische und italienische Einwanderung der letzten zwei Jahrhunderten geprägt. Außerdem gelten diese Staaten innerhalb Brasiliens als Hochburgen des Konservatismus, Rechtsradikalismus und als große Unterstützter des rechtsextremen Präsidenten Jair Bolsonaro. Dennoch stellt Porto Alegre eine kleine Insel in diesem rechten Teich dar. Sie war die einzige Hauptstadt dieser drei Staaten, in denen sich der Linke Ex-Präsident Lula da Silva eine Mehrheit gegenüber den Amtsinhaber Bolsonaro erkämpfen konnte.[3]

Politik in Brasilien

Wahlkampfsticker Lula (Quelle: Rodrigo Pilha)

Seit meiner Ankunft in Brasilien im August dieses Jahres (2022) ist Politik ein Thema, dass mir tagtäglich präsent ist. Die Gesellschaft und die Menschen haben hier einen viel expliziteren Umgang mit Politik, als ich es aus Deutschland gewohnt bin. Sie tragen Kleidung, Kappen und Sticker, die schon von weiten ihre politische Meinung erkennen lässt. Gründe für diese starke explizite politische Mentalität innerhalb der Gesellschaft könnte die starke Polarisierung zwischen den beiden politischen Lagern sein. Außerdem herrscht ein viel stärkerer Personenkult der politischen Figuren, als es in Deutschland der Fall ist, vor. Oder würde sich jemand von euch freiwillig einen Sticker mit dem Gesicht von Olaf Scholz oder Friedrich Merz auf die Brust kleben? Das Wahlsystems Brasiliens begünstigt diese Eigenschaft, indem es nur Personen zur Wahl stellen lässt und nicht Parteilisten. Brasilien ist föderales Land mit einem Präsidialsystem. Parteien haben hier eine untergeordnete Bedeutung, denn Politiker*innen wechseln Parteien wie sie möchten. Außerdem haben die Parteien oftmals keine einheitliche ideologische Linie, die die Mitglieder vereinen und werden deshalb oft nur wegen ein Paar Persönlichkeiten in den oberen Reihen gewählt. Dieser fehlende Bezug zu einer ideologischen Richtung innerhalb einer Partei bedingt oftmals korruptes Handeln innerhalb der Politik, da teilweise Stimmen sogar aus der eigenen Fraktion gekauft werden müssen, um Gesetze zu erlassen.

Wahlkampfsticker Bolsonaro (Quelle: elo7)

Brasilien ist ein Land, dass mich in diesen Wochen immer stark an die USA erinnern ließ. Wie in den USA 2020 standen sich auch hier ein Sozialdemokrat und ein unberechenbarer Rechtspopulist gegenüber. Auch hier wurde der Wahlkampf und die Amtszeit des Rechtspopulisten von alternativen Fakten und Fake News überschattet und genau ähnlich wie Donald Trump erhält Jair Bolsonaro besonders Rückendeckung von Waffenbesitzer*innen, der Waffenlobby, neoliberalen Kräften, den Evangelikalen Kirchen und einer christlich-fundamentalistischen Wählerschaft. Indem Bolsonaro es mit zu ließ, dass alternativen Wahrheiten salonfähig wurden, ist auch er, genauso wie Donald Trump, mitverantwortlich für extreme soziale Spaltung des Landes, die die Menschen in zwei komplett unterschiedliche Realitäten leben lässt.

Intervenção Federal

Dies wurde mir besonders klar, als ich mich drei Tage nach dem Wahlsieg Lulas auf einer von der Bolsonaroanhängerschaft organisierten Gegendemonstration befand. Diese zweifelte die Legitimität des Wahlausgangs an und stellt sich somit gegen eine demokratische Entscheidung. Es erschienen nicht nur eine Handvoll, sondern tausende von Menschen, die sich unter der Parole „Intervenção Federal“ versammelten, in der Hoffnung mit einer politischen und juristischen Intervention, über die brasilianische Verfassung, eine weitere Amtszeit Lulas verhindern zu können. Statt roten Fahnen, Kappen und Stickern trugen die Menschen Trikots der brasilianischen Nationalmannschaft und die Nationalflagge Brasiliens als ihren „Superhelden“ Cape. Mit allen mit denen ich auf dieser Demonstration sprach glaubten an den von Bolsonaro in die Welt gesetzten Mythos, dass das elektronische Wahlsystem in Brasilien unsicher wäre und getäuscht wurde. Dieser bezweifelte schon, aus Angst vor einer Wahlniederlage, seit Monaten die Rechtmäßigkeit des brasilianischen elektronischen Wahlsystems, obwohl er hierfür keine Beweise lieferte.[4] Als selbst im Jahre 2018 überraschend die Wahl gewann fiel ihm aber nicht ein, die Legitimität dieses Wahlsystems anzuzweifeln.

Gegendemonstration der Bolsonaroanhängerschaft (Quelle: Philipp Rohn)

Die Menschen, die sich an diesem Abend versammelten warteten sehnsüchtig auf ein Zeichen und ein Handeln „ihres“ Präsidenten Bolsonaros. Doch der blieb bisher erstaunlich ruhig. Diese Menschen haben Angst, dass nun ein Dieb, der wegen Korruption schon mal im Knast saß,[5] an die Macht kommen wird und das Land neben den „Sozialistischen“ Diktaturen Venezuela, Kuba und Nordkorea einreihen wird. Ich stellte ihnen einige naive Fragen wie, dass Lula und seine Partei ja schon über ein Jahrzehnt an der Macht gewesen waren und Brasilien mir nicht wie Venezuela vorkäme oder dass Regierungen Frankreichs, Deutschlands oder der USA sich auf die Zusammenarbeit mit Lula freuen würde und seine rechtmäßige Wiederwahl anerkennen. Ich erhoffte, dass gerade Deutschland, welches bei vielen Bolsonaroanhänger*innen ein hohes Ansehen genießt, noch eine Deutungshoheit in ihrem Diskurs besitzen könnte (tatsächlich hatten alle mit denen ich an diesem Abend sprach deutsche Nachnamen und Vorfahren). Ich bekam antworten, die ich nur als Verschwörungsglauben bewerten kann. Lula hat Brasilien nicht in Venezuela verwandeln können, da sie sich damals diesem widersetzte. Außerdem hätten die Regierungen in Europa leider ein falsches Bild von Bolsonaro und wären durch falsche, linke Presse indoktriniert wurden. Bolsonaro würde sich zum Beispiel sehr gut um den Regenwald kümmern. Bolsonaro sei ein Demokrat, der sich gegen das „linke“ politische Machtsystem stellt und für Wahrheit und gegen die Zensur der Linken kämpfe.

Ausgangspunkt und Schwierigkeiten für Lula

Die Amtszeit von Bolsonaro kürzte sämtliche soziale Programme und Investierungen in die Bildung, er passt den äußerst niedrigen Mindestlohn[6], trotz stark Inflation, kaum an, ließ durch mehrfaches nicht Handeln in Bezug auf die Corona Pandemie tausende von Menschen sterben und brachte die Abholzung des Regenwaldes wieder auf einen Höchststand. Der Schaden an der brasilianischen Gesellschaft und Demokratie sowie die wirtschaftlichen und sozial-politischen Verluste sind nach vier Jahren Bolsonaro immens. Die Arbeitslosigkeit sowie die Lebenserhaltungskosten sind hoch. 33 Millionen Brasilianer*innen leiden tagtäglich an Hunger und mehr als die Hälfte der Bevölkerung sind von Ernährungsunsicherheit betroffen[7]. Es vergeht kein Tag wo ich nicht Menschen in Mülltonnen klettern sehe und dabei beobachte, wie sie Müllsäcke aufreißen, um zu überleben. Dabei schaffte es Brasilien in den 2000er Jahren unter den ersten zwei Amtszeiten Lula‘s den Hunger fast vollständig aus dem Land zu vertreiben, die Arbeitslosigkeit zu senken und viele soziale Programme für Familien und Studierende einzurichten.

(Quelle: Globo)

Die Wahl und ihr knapper Ausgang gilt als die härteste umkämpfte Wahl seit der Redemokratisierung Brasiliens im Jahre 1985. Auch viele ältere und intellektuell geprägte Menschen, erzählten mir, dass es für sie die wichtigste Wahl in ihrem bisherigen Leben darstelle. Für viele war es nicht nur eine Wahl zwischen Links und Rechts, sondern eine Entscheidung zwischen Demokratie und Autoritarismus.

Lula, der für seine Dialogbereitschaft bekannt ist, leitete schon nach seinem Wahlsieg versöhnende Worte ein und betonte mit allen, auch rechten Parteien sprechen zu wollen. Diese Kräfte werden ihm wohl während seiner Amtszeit im Nacken sitzen, da sein Mitte-Links Bündnis keine Mehrheit in einer der legislativen Organe besitzt. Die Partei Bolsonaros (PL) stellt sowohl in der „Camara“ als auch „Senado“ die stärkste Kraft dar[8]. Außerdem ging Lula, um die Wahl zu gewinnen, viele Bündnisse mit bürgerlichen und konservativen Kräften ein, die ihre Interessen und Machtansprüche realisiert haben möchten. So stellt der Vize-Präsident Lulas, Geraldo Alckmin, einer dessen ehemaligen politischer Gegner dar. Auch ging der Politiker in mehreren Regionen im Land Vereinbarungen mit Politiker*innen ein, die auf der Seite des Agro-negócios, der Abholzung und der liberalen Wirtschaft stehen. Der Schutz indigener Menschen und des Regenwaldes wird also auch unter ihm keine Selbstspiel werden.

Dagegen stellte Bolsonaro bereits vor der Wahl klar, welche Möglichkeiten es nur für seine Zukunft gäbe: den Knast, den Tod oder den Sieg, doch wir können uns sicher sein, dass für ihn die erste Möglichkeit keine Option darstelle.[9] Er inszenierte sich auch schon als Märtyrer, indem er öffentlich meinte, dass nur Gott ihn aus dem Amt holen kann.[10]


[1] Tiago Doidão, Juliano Maderada – Tá na Hora do Jair Já Ir Embora.

[2] Gaúchos werden oft als südamerikanische Cowboys bezeichnet, die in Uruguay, Argentinien, Südbrasilien Paraguay und Bolivien im Biom des Chaco beheimatet sind. Sie spielen eine wichtige Rolle als nationale Identitätsfigur in einigen dieser Länder (besonders in Uruguay, Argentinien und im Bundesstaat Rio Grande do Sul).

[3] https://www.estadao.com.br/politica/em-porto-alegre-rs-lula-derrota-jair-bolsonaro-no-segundo-turno-para-presidente-veja-resultados/

[4] https://www.youtube.com/watch?v=dZWH_Ma9Wqk

[5] 2017 wurde Lula wegen eines Korruptionsskandals zu 9 Jahren Haft verurteilt (Operation Lava-Jato). Nachdem Lula 580 Tage in Haft saß, wurde das Urteil im Jahre 2019 wieder annulliert und Lula da Silva freigelassen. Die Verurteilung Lula’s wird heute (auch von der UN) als ein politischer Akt beurteilt, der nicht fair verlaufen ist. So wurde der Richter Sérgio Moro, der Lula in den Knast brach, nach dem Wahlausgang 2018 in das Kabinett Bolsonaro’s als Justizminister berufen (mehr dazu in der ila Ausgabe 458 S.9).

[6] Der brasilianische Mindestlohn beträgt zurzeit 1212R$, die je nach Wechselkur 230€ im Monat entsprechen.

[7] https://www.kooperation-brasilien.org/de/themen/menschenrechte-gesellschaft/33-millionen-brasilianer-innen-leiden-hunger

[8] https://www.camara.leg.br/Internet/Deputado/bancada.asp

https://www12.senado.leg.br/noticias/materias/2022/10/03/pl-faz-a-maior-bancada-do-senado-psd-e-o-segundo-maior-partido

[9] https://www.youtube.com/watch?v=g0GBvaEtLxs

[10] https://www.dw.com/pt-br/brasil-retorna-%C3%A0-normalidade-democr%C3%A1tica-com-vit%C3%B3ria-de-lula/a-63603903


Philipp Rohn es estudiante de los grados Antropologia de las Américas y Filosofia en la Universidad de Bonn. A su vez, es practicante del blog Amerigrafías del Departamento de Antropología de las Américas.